Am 8. Februar hat eine geflüchtete Person (wir kennen den Namen nicht, deshalb im Folgenden «die Person») in einem Zug von Sainte-Croix nach Yverdon-les-Bains 12 Passagiere und den Zugführer als Geiseln genommen. Vier Stunden danach wurde er von der Polizei bei der Erstürmung des Zuges erschossen. Die Geiseln blieben unverletzt.
Am folgenden Tag schrieb Beat Jans, SP-Bundesrat und seit kurzem Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements auf x.com
«Mit grosser Betroffenheit habe ich von der Geiselnahme in einem Regionalzug in Yverdon erfahren. Ich habe mit den involvierten Polizeikräften telefoniert und ihnen für ihren Einsatz gedankt. Die Bevölkerung hat ein Anrecht auf Sicherheit. Ich wünsche den Beteiligten und ihren Angehörigen viel Kraft bei der Bewältigung der Erlebnisse. Das @semigration wird mit den betroffenen Kantonen die Hintergründe dieses Falls aufarbeiten und mögliche Konsequenzen prüfen.»
Beat Jans auf x.com am 9. Februar 2024
Es ist bezeichnend, dass in diesem Statement die erschossene geflüchtete Person nicht vorkommt. Zu sehr scheint dieser Vorfall ein Narrativ zu bestätigen, das (geflüchtete) migrantische Personen primär als eine potenzielle Bedrohung gegen «die Bevölkerung» darstellt. Mit dem Vorwand der «Sicherheit» werden laufend die Asylgesetze verschärft, die Kontrollen in und um die Zentren erhöht und die Repressionsmassnahmen ausgeweitet. Im Gegensatz zum Vorfall am 8. Februar macht die Gewalt, die so gegen betroffene (geflüchtete) Migrant*innen ausgeübt wird jedoch keine Schlagzeilen.
Wessen Anrecht auf Sicherheit?
Die Person war aus dem Iran in die Schweiz geflüchtet. Laut Medienberichten war sein Gesuch noch nicht abschliessend beureilt worden, doch als Iraner lagen seine Chancen, in der Schweiz Schutz zu erhalten statistisch gesehen deutlich unter 50% (Quelle: Asylstatistik des SEM). Trotz der desolaten Menschenrechtssituation, systematischer Diskriminierung und Unterdrückung von TINFA-Personen, Folter und Hinrichtungen fordert die Schweiz noch immer mehr als die Hälfte der geflüchteten Iraner*innen auf, in den Iran zurückzukehren. Das von Jans beschworene «Anrecht auf Sicherheit» gilt eben nicht universell, sondern ist ein Privileg derjenigen mit dem richtigen Pass und dem richtigen Aussehen.
Welche Hintergründe?
Laut Recherchen von RTS war die Person auf der Flucht mehrere Male misshandelt worden. Er habe an psychischen Problemen gelitten und sei auch suizidal gewesen. Ob die Auswirkungen einer traumatisierenden Flucht, jahrelanger Unsicherheit im Asylverfahren und permanenter existenzielle Armut auf die Psyche von Betroffenen auch Teil der «Hintergründe des Falls» sein wird, die das SEM nun aufarbeiten soll, bleibt offen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass «viel Kraft bei der Bewältigung der Erlebnisse» für Geflüchtete in den Schweizer Asylstrukturen keine Priorität hat.
Welches Narrativ?
Laut Medienberichten, waren die Motive der Person «auf die Situation als Asylbewerber zurückzuführen». Doch anstatt den Zusammenhang zwischen den Lebensumständen und der Verzweiflungstat genauer zu untersuchen, erhalten wir von der Polizei eine detaillierte Schilderung ihres Einsatzes. Ein bekanntes und unterkomplexes Narrativ eines migrantischen Gewalttäters, der am Schluss niedergestreckt wird, verankert durch Jahrzehnte rassistischer Hetze von Rechts und legitimiert durch die öffentliche pietätslose Danksagung des obersten Chefs für die Tötung eines Menschen.
Welche Gewalt?
Die Gewalt, die am Abend des 8. Februar von der Person ausging, kann nur vor dem Hintergrund der normalisierten und für die breite Bevölkerung unsichtbaren Gewalt gegen (geflüchtete) migrantische Personen verstanden werden. So gesehen handelt es sich hier auch nicht um einen Einzelfall. Die meisten Menschen in der gleichen Situation verzweifeln einfach im Stillen. So wie Nesurasa, so wie Ali Reza, so wie viele mehr, die seit Jahren in der Schweiz ohne Aussicht auf Perspektive und Schutz ausharren müssen und deren friedlichen Proteste kaum wahrgenommen werden.
Was für Konsequenzen?
Beat Jans hat angekündigt, das Staatssekretariat für Migration werde «mögliche Konsequenzen prüfen». Wir fordern Zukunftsperspektiven und Sicherheit, Zugang zu psychologischer Unterstützung, zu Wohnraum, Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Doch in Anbetracht der aktuellen migrationspolitischen Stossrichtung der Schweiz klingen selbst Forderungen nach der Deckung der Grundedürfnissen aller Geflüchteten wie Wunschdenken. Mehr denn je braucht es deshalb auch organisierte widerständige Solidarität.