Bundesasylcamp Boudry: Ein Suizid bleibt ohne Folgen

In Gedenken an B. – 1

FR///EN/// Am 23. Dezember 2020 nahm sich B. unweit des Bundesasylcamp Boudry das Leben. Eine externe Untersuchung stellte ein Jahr danach erschreckende Fehlhandlungen der zuständigen Akteur*innen im Bundesasylcamp fest. Zwei Jahre nach dem Suizid gibt es für die (Mit-)Verantwortlichen noch immer keine namhaften Konsequenzen. Das Migrant Solidarity Network verurteilt die folgenschwere Vernachlässigung von B. und erwägt, Strafanzeige einzureichen.

Studie von unisanté und CHUV zur Suizidprävention in Bundesasylcamps der Region Westschweiz. Die Analyse zum Suizid von B. findet sich auf den Seiten 82 bis 85.

Repression statt Schutz

B. war aus Pakistan geflohen und suchte in der Schweiz Schutz und Sicherheit. Anfangs Dezember 2020 wurde der 40-Jährige dem Bundesasylcamp Boudry zugeteilt. Der interne Gesundheitsdienst MedicHelp stellte gesundheitliche Probleme fest. B. war stark suchtkrank (Alkohol), litt unter Stress- und Angstzuständen sowie Schlafstörungen. Zudem äusserte er Suizidgedanken.

In den Wochen vor seinem Tod leitete die MedicHelp kaum angemessene psychologisch-psychiatrische Behandlung ein. Die für die Betreuung zuständige ORS AG bot ungenügend Unterstützung an und das Staatssekretariat für Migration intervenierte trotz der erhöhten Obhutspflicht nicht: Das Recht auf Leben wurde nicht geschützt.

Auf die Probleme von B. reagierte vorwiegend die private Sicherheitsfirma Protectas AG – mit Repression. Sie betrachtete B. trotz seiner Vulnerabilität einseitig als Gefahr und schloss ihn aufgrund von aggressivem Verhalten wiederholt vom Camp aus. In den drei Wochen vor seinem Suizid erfuhr B. erschütternde Repression.

Am 10. Dezember 2020 versucht B. sich ein erstes Mal das Leben zu nehmen

An diesem Tag wird B. der Zugang zum Camp verweigert, weil er betrunken ist. Die Temperaturen sind unter null Grad. B. geht zum Wartesaal des Caritas-Rechtsdienst. Er ist verzweifelt, äussert Suizidgedanken. Kurz darauf wird er von Mitarbeitenden des Caritas-Rechtsdienstes auf den Zugschienen ausserhalb des Camps gefunden. Er verbringt die Nacht auf dem Notfall. Bereits am nächsten Morgen wird er ohne weiteren Behandlungsplan entlassen. In den Akten des Sicherheitspersonal wird der Suizidversuch nicht erwähnt. Protokolliert wird einzig sein „Regelverstoss“. Die Felder „Verletzungen“, „Zustand“ „Spezielles“ bleiben leer. Eine dringende psychiatrische Behandlung aufgrund akuter Suizidalität wird nicht aufgegleist.

Am 12. Dezember – zwei Tage nach dem Suizidversuch – wird B. erneut aus dem Camp ausgeschlossen

Das Protectas-Personal erachtet sein Verhalten erneut als aggressiv, bedrohlich und entfernt B. aus den Räumlichkeiten des Bundesasylcamps. B. äussert Suizidgedanken. Er wird von der Polizei abgeführt. Zu einer (stationär-)psychiatrischen Behandlung aufgrund der akuten Suizidgefahr kommt es nicht.

Am 16. Dezember ist B. betrunken, aggressiv und äussert Suizidgedanken. Die private Sicherheitsfirma ruft erneut die Polizei, statt zu helfen

Die Polizei führt ihn ab und hält ihn für eine Nacht fest. Als er am nächsten Tag im Camp ankommt, lässt ihn die private Sicherheitsfirma ausserhalb des Camps warten, weil er sich nicht ausweisen kann. B. ersucht beim Caritas-Rechtsdienst um Hilfe. Dieser bringt ihn zum internen Gesundheitsdienst MedicHelp. Trotz der akuten Suizidalität wird erneut keine Behandlung initiiert.

Auch am Abend seines Todes reagiert die private Sicherheitsfirma mit Repression

Am 23. Dezember 2020 ist B. aufgebracht, aggressiv und betrunken. Ihm wird die Hilfe verweigert. Er wird für eine ganze Nacht aus dem Camp ausschlossen. Kurze Zeit nach diesem Entscheid nimmt sich B. auf den Zugschienen das Leben.

Die akute Suizidalität und Hilfsbedürftigkeit von B. wurde ignoriert

In den Bundesasylcamps hat der Staat aufgrund der Freiheitsbeschränkung eine erhöhte Obhutspflicht für das Recht auf Leben der dort isolierten Personen. Einzelne Akteur*innen tragen somit für den Suizid eine (Mit-)Verantwortung. Bisher ist nicht bekannt, ob die Vernachlässigung für sie Konsequenzen hat. Das Migrant Solidarity Network Strafanzeige einzureichen.

Die Untersuchung des Suizids von B. macht sichtbar, wie stark die klar definierten Abläufe innerhalb der Bundesasylcamps auf Repression ausgerichtet sind. Therapiebedürftige Personen bleiben in diesem System besonders in akuten Notlagen alleingelassen. Todesfälle wie der Suizid von B. werden systematisch in Kauf genommen.

Wurden die minimalen Empfehlungen umgesetzt?

In der erwähnten Studie werden vier dringende Massnahmen vorgeschlagen:

  • Selbstschädigende Handlungen definieren und erfassen, um suizidalem Verhalten besser vorzubeugen;
  • dem in den Zentren tätigen Personal eine spezifische Schulung zur Suizidprävention und zum Umgang mit Suizidrisiken anbieten;
  • eine Anlaufstelle für das Personal schaffen;
  • regelmässige Supervisionen durch Führungskräfte einführen, um die Praxis zu verbessern.

Am 16. Mai 2022 versprach das SEM: „Das SEM ist daran, diese Empfehlungen zu evaluieren“.

Ob dies reicht, um geflüchtete Personen vor psychischen Erkrankungen und Suizid zu schützen, sei dahingestellt.

Migrant Solidarity Network

Camp d’asile fédéral de Boudry : un suicide sans conséquences

Le 23 décembre 2020, B. s’est suicidé non loin du camp fédéral d’asile de Boudry. Un an après, une enquête externe a constaté des erreurs effrayantes de la part des acteur-trice-s responsables du camp fédéral d’asile. Deux ans après le suicide, il n’y a toujours pas de conséquences notables pour les (co)responsables. Le Migrant Solidarity Network condamne la négligence lourde de conséquences pour B. et envisage de déposer une plainte pénale.


Federal asylum camp Boudry: A suicide remains without consequences

On the 23rd of December 2020, B. took his own life close to the Federal Asylum Camp Boudry. One year later, an external investigation found appalling misconduct on the part of the responsible actors in the federal asylum camp. Two years after the suicide, there are still no significant consequences for those responsible. The Migrant Solidarity Network condemns the serious neglect of B. and is considering filing criminal charges.