Erfahrungs- und Hintergrundsbericht zur aktuellen Situation von A.
Ein Propeller surrt an der Decke, die Luft ist aufgrund der immer verschlossenen Fenster stickig. Ich werde von einem Polizist in den Besucherraum geführt. Die Wände sind blass gelb angestrichen. Die Kameras in den Zimmerecken sind kaum zu übersehen. A erwartet mich bereits. Er bemüht sich fröhlich zu sein und freut sich über einen Besuch während des eintönigen Aufenthalts in der Vollzugsanstalt. Die Tür fällt hinter dem Polizisten ins Schloss und verriegelt sich automatisch. A fängt an seine Geschichte zu erzählen. Er hat eine Stunde Zeit. Mehr gewährt die Gefängnisleitung nicht.
A steht für die je nach Schätzung 70‘000 bis 180’000 Sans Papiers in der Schweiz. A ist wie viele andere vor knapp 10 Jahren in die Schweiz eingereist und hat ein Asylgesuch gestellt. Das Gesuch wurde abgelehnt, da seine Identität nicht geklärt werden konnte. A hat „keine Papiere“. Er muss die Schweiz verlassen. Doch auf Grund der fehlenden Papiere kann er nicht ausreisen. Er würde der nächsten Grenzpolizei in die Arme laufen und aufgrund des Dublin-Abkommens wieder in die Schweiz „ausgeschafft“ werden.
Seit seiner Einreise wird er als Folge der verwirrenden und unmenschlichen Gesetze von den Behörden willkürlich hin und her geschoben.
An einem kalten Novembertag wird A an einem Bahnhof von zwei Polizist*innen nach seinem Ausweis gefragt. Er muss mit auf den Polizeiposten und es wird überprüft, ob die Aussage über seinen Aufenthaltsort mit den Angaben des Systems übereinstimmt. Er kann wieder „nach Hause“. Kurz darauf trifft ein Strafbefehl der Staatsanwaltschaft bei ihm ein. Er müsse wegen illegalem Aufenthalt gemäss Art. 115 AUG (Neu AIG) CHF 3‘600.00 Busse bezahlen.
Personen, deren Asylgesuch rechtskräftig abgewiesen worden ist oder die einen Nichteintretensentscheid erhalten haben, haben seit 2008 keinen Anspruch auf Sozialhilfe mehr. Sie können Nothilfe beantragen, da dieses Grundrecht durch die Verfassungen von Bund und Kanton garantiert ist. Eigentlich müssen sie aber ausreisen. Sie werden mit allen Mitteln vom Staat dazu gedrängt unterzutauchen. Am besten wäre es für die Schweiz, wenn sie sich in Luft auflösten.
Nothilfe umfasst Nahrung, Hygiene, Kleidung und medizinische Versorgung. Meistens werden Gutscheine oder Materialien direkt abgegeben, selten wird Geld ausbezahlt. Die zuständigen Behörden bestimmen den Aufenthaltsort für die betroffenen Personen und weisen ihnen eine Unterkunft zu.
A liest den Strafbefehl. Niemand hat ihm erklärt was genau ein Strafbefehl ist oder wie er sich dagegen wehren könnte. Er versteht nichts. Er kann zwar gut Deutsch, die juristische Sprache und das Zusammenwirken der verschiedenen Behörden ist jedoch für ihn ein unlösbares Rätsel. Er hat weder einen Menschen bedroht oder etwas Gestohlen, noch hat er Drogen verkauft oder sich sonst wie gesetzeswidrig verhalten. Alleine seine Anwesenheit ist ein Delikt.
A sitzt auf dem harten Bettrand des Militärbetts der Zivilschutzanlage. Er stützt seinen Kopf in die Hände. Er hat weder ein Einkommen noch Vermögen. Es ist ihm schlicht und einfach unmöglich die Busse zu bezahlen. Abwarten was passiert. Die Ohnmacht aushalten.
Die Zeit verstreicht. Im März 2019 entscheidet die Staatsanwaltschaft die Busse in eine „Ersatzfreiheitsstrafe“ umzuwandeln. 115 Tage muss er nun ins Gefängnis. Es unterscheidet sich abgesehen von teurem technischen Schnickschnack kaum von der Unterkunft in der er lebt. Frei ist er nirgends. Das Gefühl bleibt das Gleiche.
In der Schweiz gilt das Rechtsprinzip «ne bis in idem»: Niemand darf zweimal für dieselbe Tat bestraft werden. Gemäss einem Bundesgerichtsurteil gilt dies jedoch nicht für die Bestrafung von illegalem Aufenthalt. Das Urteil vom November 2008 bezeichnet «rechtswidriges Verweilen im Land» als «Dauerdelikt». In Gerichtssprache heisst das: «Das Delikt (…) wird durch den fortdauernden Willen des Täters aufrechterhalten und erneuert sich gewissermassen fortlaufend.» Im selben Urteil wird festgehalten, dass die Summe der Haftstrafen zwölf Monate nicht übersteigen darf.
Im AIG sind sowohl die Administrativhaft wie auch eine strafrechtliche Verurteilung wegen Verstoss gegen das AIG vorgesehen. Unter die Administrativhaft fallen die Zwangsmassnahmen, namentlich die Ausschaffungs-, Vorbereitungs- und Durchsetzungshaft. Administrativmassnahmen dürfen höchstens 18 Monate betragen. Eine Person, die sich ohne Anwesenheitsrecht in der Schweiz aufhält, kann aber sowohl wegen illegalen Aufenthaltes, illegaler Einreise und/oder Missachtung einer Ein- und Ausgrenzung zu einer Haftstrafe verurteilt werden, wie auch im Sinne einer Zwangsmassnahme. So können zu den (höchstens) 18 Monaten Administrativhaft weitere 12 Monate wegen illegalen Aufenthalts dazu kommen.[1]
Gleichzeitig sind die Schweizer Gefängnisse voll. Die WOZ schreibt: „Die Rechnung ist einfach: Ein Land, das Asyl- und Ausländergesetze immer mehr verschärft, legale Einreisemöglichkeiten zunehmend beschränkt, Fluchtgründe oder das Recht auf Familiennachzug immer weiter einschränkt und Rekursfristen verkürzt, kriminalisiert immer mehr Menschen. So erhöht sich die AusländerInnenquote in den Gefängnissen – was wiederum der Polemik über die «kriminellen Ausländer» Vorschub leistet. Darauf wird mit einer weiteren Verschärfung der Gesetze reagiert. Der Hund beisst sich in den Schwanz.“[2]
Die Auslegung des Tatbestandes des illegalen Aufenthaltes als Dauerdelikt bedeutet nicht nur die Verursachung von hohen Kosten, Belegung von Gefängnisplätzen und enorme Verwaltungsarbeit für ein Delikt, dessen strafrechtliche Verfolgung einzig in der Schweiz und … praktiziert wird und niemand bedroht oder gefährdet wird – es bedeutet auch eine weitere Willkür und Einschränkungen gegenüber Menschen, die sowieso schon in einer komplizierten Situation leben und noch mehr Angst und Stress für Betroffene. Dies ohne dass damit das eigentliche Ziel – die Ausreise der Person – erfüllt wird.
[1] KKF OCA, Fachinfo Januar 2017, Bestrafung wegen illegalen Aufenthalts
[2] www.woz.ch/-6077, abgerufen am 03.06.2019