Bern: Öffentliche Gerichtsverhandlung zur zwingenden Anwesenheitspflicht in Nothilfecamps

Das Berner Verwaltungsgericht berät am Donnerstag 30.10.2025 öffentlich über zwei Beschwerden gegen das berner Nothilferegime. Eine davon stammt von einer abgewiesenen Person aus dem Umfeld des Migrant Solidarity Network. Der Beschwerdeführer wehrt sich dagegen, dass die ORS Service AG und die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern die Anwesenheitspflicht im Nothilfecamp zu einer zwingenden Bedingung für den Anspruch auf Nothilfe gemacht haben (vgl. Artikel Hauptstadt für die zweite Beschwerde). Wir kritisieren: “Die freiheitsbeschränkende Anwesenheitspflicht ist unzulässig und missachtet das Legalitätsprinzip”.

Die Anwesenheitspflicht in Berner Nothilfecamps wurde 2019 verschärft. Die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern hiess eine Verschärfung der Nothilfeweisung gut: „Die zwingende Anwesenheitspflicht bedeutet, dass sich die Nothilfebeziehenden an sieben Tagen die Woche im Rückkehrzentrum aufhalten und dort übernachten“ (Ziffer 5.4 der kantonalen Nothilfeweisung). Die zwingende Anwesenheitspflicht stellt für die betroffenen abgewiesenen Geflüchteten eine einschneidende Freiheitsbeschränkung dar. Die Bewegungsfreiheit sowie das Recht auf Familie und soziale Kontakte werden stark eingeschränkt. Laut Behörden sei dies nötig und verhältnismässig, um festzustellen, ob abgewiesene Personen nothilfebedürftig seien oder nicht. 

Regierungsrat Philippe Müller und die Sicherheitsdirektion missachten die Gewaltentrennung. Weder das Asylgesetz, noch ein kantonales Gesetz liefern eine genügende gesetzliche Grundlage für die Freiheitsbeschränkung. Regierungsrat Müller erliess dazu nicht einmal eine Verordnung. Eigenmächtig wurde die Freiheitsbeschränkung im Alleingang über eine einfache Änderung der Nothilfeweisung einzuführen. Das Parlament hat darüber nie debattiert. Die Verschärfung betrachten wir als unzulässlig.

Nach der Einführung haben 59 betroffene Personen protestiert und eine Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Dies geschah in Zusammenarbeit mit dem Migrant Solidarity Network und den Demokratischen Jurist*innen Bern. (Mitteilung vom 1. Februar). Das Bundesgericht sah sich nicht zuständig und ging nicht auf die Beschwerde ein. Im Nachgang kam es zu den zwei Beschwerden, die heute – Jahre später – vom kantonalen Verwaltungsgericht öffentlich beraten werden.

Um was geht es in der Beschwerde aus dem Umfeld des Migrant Solidarity Network?

Der Beschwerdeführer habe laut der ORS Service AG „wiederholt“ gegen die zwingende Anwesenheitspflicht verstossen. Die ORS Service AG schliesst daraus, dass der Beschwerdeführer von Dritten Unterstützung erhalte. Deshalb verfügt sie einen Nothilfeausschluss. Gegen diese wurde Beschwerde eingereicht, denn Nothilfe ist ein Verfassungsrecht, das nicht einfach eingeschränkt werden kann.

Artikel 12 der Bundesverfassung sichert allen Menschen in der Schweiz eine Hilfe in Notlagen (Nothilfe) zu: „Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind“. Laut Bundesgericht umfasst ein „menschenwürdiges Dasein“: (1) die obligatorische Krankenkasse, (2) ein Dach über dem Kopf und (3) ein Sackgeld oder Sachleistungen im Wert von rund 10 Franken pro Tag.

Wie argumentiert der Beschwerdeführer?

  • Der Nothilfeausschluss stellt eine schwerwiegende und folgenreiche Einschränkung dar. Die profitorientierte ORS Service AG sollte als nicht-staatlicher Akteur nicht befugt sein, einer derartige Macht über ein Leben auszuüben. Hierfür besteht keine klare Rechtsgrundlage. 
  • Der Nothilfeausschluss verletzt das Recht auf „Hilfe in Notlagen“. Einschränkungen der Nothilfe durch «Auflagen» und „Bedingungen“ sind nur zulässig, wenn sie zur Beseitigung der Notlage führen. Die zwingende freiheitsbeschränkende Anwesenheitspflicht trägt jedoch in keiner Art und Weise dazu bei, die Notlage zu beseitigen, im Gegenteil. 
  • Die Begründung der ORS Service AG und der Sicherheitsdirektion ist zu pauschal. Die Annahme, dass abgewiesene Personen, die ausserhalb eines Nothilfecamps übernachten, automatisch über genügend Mittel verfügen, um ihre Krankenkassenprämie und ihr tägliches Überleben zu finanzieren, ist unbegründet. Das Arbeitsverbot gilt für abgewiesene Personen weiterhin und eine Bleibe geht nicht zwingend mit finanzieller Unterstützung einher. Die Prüfung der Nothilfebedürftigigkeit durch eine zwingende Anwesenheitspflicht ist zu pauschal.
  • Gemäss Bundesgericht besteht kein Zwang, alle drei Nothilfeleistungen zu benötigen, um als nothilfebedürftig zu gelten (BGE 138 V 310 E. 5.3). Wer beispielsweise selber ein Dach über dem Kopf findet und deshalb kein Platz in einem Nothilfecamp mehr nötig hat, soll falls nötig, trotzdem Nothilfegeld oder Unterstützung für die Krankenkasse erhalten. Der komplette Ausschluss aus der Nothilfe ausschliesslich aufgrund des Nichteinhaltens der freiheitsbeschneidenden Anwesenheitspflicht ist unbegründet. Für eine Praxisänderung beim Prüfen der Nothilfebedürftigkeit spricht auch das Wirtschaftlichkeitsprinzip, das das Berner Parlament festgehalten hat. Artikel 18 des Einführungsgesetz zum Ausländer- und Integrationsgesetz sowie zum Asylgesetz verlangt: „Bei der Gewährung der Nothilfe (…) sind kostengünstige Lösungen zu wählen.“

Das Migrant Solidarity Network fordert:

  • Ein sofortiges Ende der unzulässigen Anwesenheitspflicht.
  • Die Recht die Nothilfe nicht ganz, sondern auch nur teilweise beziehen zu dürfen.
  • Eine externe Untersuchung zur Frage, wie die Missachtung der Verfassung und der Gewaltentrennung hätte verhindert werden können.

„Dass das Unzulässige des Berner Nothilferegimes keinen Skandal auslöst, zeigt den strukturellen Rassismus im und beim Kanton auf.“ (Migrant Solidarity Network)