Kein Einzelfall, kein Zufall, kein Unfall – Patriarchale Gewalt in Asyllagern jenseits rassistischer Zuschreibungen

Kommentar zum Artikel «Vor aller Augen» in der NZZ am Sonntag vom 26. Februar 2023 über Mord an Jamilia 1 in der Nacht vom 23. auf den 24. April 2022 in der Kollektivunterkunft Büren an der Aare.

Was wir aktuell erleben, ist keine «Migrationskrise». Es ist eine Krise der globalen Gerechtigkeit. Die momentane Lage ist auch nicht der Grund dafür, weshalb geschlechtsspezifische Gefahren und Herausforderungen in Kollektivunterkünften wie auch gesamtgesellschaftlich nicht angegangen werden. Gründe für die Ignoranz sind die patriarchalen Verhältnisse, welche Stützpfeiler unserer Gesellschaft sind.

Geschlechtsbezogene Gewalt, somit auch häusliche Gewalt in der Partner*innenschaft, steht meist in Zusammenhang mit Macht-Asymmetrie(n) und Abhängigkeit(en), welche oftmals durch das Geschlechterverhältnis bedingt sind. In der Schweiz leben wir in patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen. Das bedeutet, dass wir lernen, dass nicht alle Menschen gleichwertig sein können. Laut Bundesamt für Statistik wird alle vier Wochen eine Frau von ihrem (Ex-)Partner ermordet (Wanner, 2020, 05. Oktober). Gewalt gegen trans, intergeschlechtliche, non-binäre und agender Personen aufgrund ihres Geschlechts wird noch immer kaum statistisch erfasst.

Geschlechtsspezifische Bedürfnisse – eine Lücke im Schweizer Asylsystem

Bei der Istanbul-Konvention handelt sich um ein Übereinkommen des Europarats «zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt». Die Konvention trat 2014 in Kraft und verpflichtet die unterzeichnenden Länder erstmals umfassende Massnahmen zur direkten Gewaltprävention sowie für die Gleichstellung zu ergreifen. Die Logik besteht darin, dass durch die Gleichstellung aller Geschlechter das beste Vorbeugeprinzip gegen geschlechtsbezogene Gewalt geschaffen werde. Die Schweiz hat die Istanbul-Konvention mitratifiziert und hat sich/ist somit zur Umsetzung der Massnahmen verpflichtet.

In einem alternativen Vertiefungsbericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz widmet sich Brava, die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, die Schweizerische Flüchtlingshilfe, wie auch die NGONG Post Beijing, der Situation von gewaltbetroffenen geflüchteten Frauen in der Schweiz. Erstellt wurde der Bericht aus dem Grund, dass eine grosse Lücke bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention besteht. Im Bericht halten sie fest, dass praktisch alle Frauen im Herkunftsland und/oder auf der Flucht von (sexualisierter) Gewalt betroffen waren und sind. Die geschlechtsspezifische Gewalt hinterlässt psychische und physische Spuren bei den Betroffenen. Weiter stellen sie fest, dass Frauen, welche ausserhalb der Schweiz Gewalt erfahren haben, in der Schweiz kaum Zugang zu den benötigten spezialisierten Unterstützungs- und Schutzleistungen gewährt wird. In der Schweiz angekommen, sind (geflüchtete) Frauen einem erhöhtem Gewaltrisiko ausgesetzt – gemäss diversen Berichten zur Situation von geflüchteten Frauen im Schweizer Asylsystem, sind Betroffene in den Asyllagern der Schweiz nicht sicher, da ihren geschlechtsspezifischen Bedürfnissen kaum Rechnung getragen wird.

Ähnliches steht auch im Praxisleitfaden für eine auf Integration und Gleichbehandlung ausgerichtete Aufnahme, der 2017 von Asile LGBT verfasst und 2019 von Queeramnesty ins Deutsche übersetzt wurde. Der Leitfaden legt ein besonderes Augenmerk auf (unter anderem) die Situation von trans, intergeschlechtlichen, non-binären und agender Personen in Asylstrukturen. Ausgangslage für den Leitfaden sind die vielen Berichte von TIN(F)A2-Personen über Gewalterfahrungen in den hiesigen Asylstrukturen. Gleichzeitig stellen die Autor*innen fest, dass trotz einer steigenden Zahl Asylgesuche, aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität, LGBTIQ*-Personen in den offiziellen Aufnahmeeinrichtungen weitestgehend unsichtbar bleiben. Fehlender Zugang zu (geschlechts)spezifischen Unterstützungs- und Schutzleistungen gehören auch hier zu den Faktoren, welche betroffene Personen «unsichtbar» machen.

Mit Blick auf Gewalt in Partnerschaften stellen Fachpersonen ausserdem fest, dass für gewaltbetroffene Migrant*innen verschiedene Aspekte, wie der mögliche Verlust der Aufenthaltsbewilligung, sozioökonomische Faktoren und kommunikative Barrieren, eine Abhängigkeitsbeziehung stärken. Dies führt bspw. dazu, dass eine Trennung vom gewalttätigen Partner für (geflüchtete) Migrantinnen viele neue Risiken birgt. Wenn sie sich also von der Gewalt ihres (Ehe-)Partners lösen, kann sich die staatliche Gewalt im Gegenzug verstärken. Diese Lücke zeigt auf, wie strukturelle Gegebenheiten – das geltende Bundesgesetz über die Ausländer*innen (AIG 50) – sich dem Opferschutz entgegenstellen (Sánchez, 2010, S. 7). Diese Rechtspraxis widerspricht somit klar Art. 59 der Istanbul-Konvention.

Ungenügender Schutz und rassistische Zuschreibungen

Der ungenügende Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt für (geflüchtete) Migrantinnen zeigt sich auch am Feminizid an Jamilia, welche vom 23. auf den 24. April von ihrem Ehemann im Asyllager in Büren an der Aare (BE) getötet wurde. Einige Wochen davor hatte sie sich an die Leitung des Lagers, das Schweizerischen Roten Kreuz, gewendet und ihnen mitgeteilt, dass ihr Mann physische Gewalt gegen sie und ihre Kinder anwendet. Von der Asyllagerleitung, welche Zuständig für die Existenzsicherung jener Menschen ist, die durch strukturelle Umstände in den Asyllager leben müssen, wurde darauffolgend keine Massnahmen ergriffen, um Jamilia und ihre Kinder vor der patriarchalen Gewalt ihres Mannes zu schützen. Betroffenen Menschen zufolge verwundert dies nicht – die Lagerleitung degradiere solche Hilferufe meist damit, «dass wir uns untereinander sowieso die ganze Zeit abschlagen würden. So sehen sie uns…». Es zeigt sich deutlich, dass im Diskurs von häuslicher Gewalt an (geflüchteten) Migrantinnen, oftmals die Tendenz besteht, das Erlebte der betroffenen Menschen mit diversen -angeblich kulturellen – Gegebenheiten in Verbindung zu bringen und darin Erklärungen zu suchen (Sánchez, 2010, S. 46). Dies ist rassistisch und birgt die Gefahr, dass die Situation – wie im Fall von Jamilia – durch Ethnisierung vereinfacht und die Multidimensionalität ungenügend berücksichtigt wird (Gaitanides, 2008, S. 40).

Die Sozialpädagogin Pia Allemann, der Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in der Ehe und Partnerschaft, sagt in einem Interview zu geschlechtsspezifischer Gewalt, dass Faktoren wie enge Wohnverhältnisse oder finanzielle Probleme häusliche Gewalt begünstigen (Keller, 2020, 20. November). Die Infrastruktur in den Asylunterkünften wie auch die fehlenden Geschlechtssensiblen Leitlinien der Betreuung schützen geflüchtete nicht genügend vor geschlechtsspezifischer Gewalt.

Ein genereller Mangel an sicherer Privatsphäre, inklusiven/separaten Toiletten und Waschräumen in Kollektivunterkünften stellt insbesondere auch für trans, intergeschlechtliche, non-binäre und agender Personen ein Risiko- und Stressfaktor dar. Zu fehlenden geschlechtssensiblen Leitlinien in der Betreuung kommt ausserdem ein Mangel an spezialisierter/sensibilisierter Rechtsberatung und Gesundheitsversorgung.

Gewaltvolle Strukturen benennen, verstehen, verändern

Seit dem Feminizid im April 2022 hat sich in der Kollektivunterkunft in Büren an der Aare strukturell nichts geändert, es gelten noch immer keine Gewaltschutzkonzepte. Als eine Mitarbeiterin von Brava den Feminizid in Büren an der Podiumsdiskussion beim Politforum Bern thematisierte und scharf kritisierte, reagierte das SRK, das die Unterkunft im Auftrag des Kantons betreibt, irritiert. Über strukturelle Massnahmen zur Prävention von Gewalt wollten die verantwortlichen Personen dennoch nicht sprechen.

Wie also kann man diese Problematik im öffentlichen und institutionellen Bewusstsein stärken? Sowohl in den Medien wie auch in gesellschaftspolitischen Diskursen oder auf staatlicher Seite muss klarer kommuniziert werden, dass TINFA-Personen Gewalt erleben, weil sie TINFA-Personen sind. Nur so können stereotype Vorstellungen und unterschwellige sowie rassistische Schuldzuweisungen vermindert werden. Wenn wir Femizide3 und Feminizide4 nicht klar benennen, schauen wir nicht genau hin, was das eigentliche Problem ist; dass Männer lernen, sie hätten gewisse Besitzansprüche über eine Frau und weil sie nicht immer lernen, Konflikte auf andere Wege zu lösen (Keller, 2020).

Der Faktor Geschlecht hat einen grossen Einfluss auf das Ausmass der Betroffenheit von Beziehungsgewalt – ist statistisch also ein auffälliges Merkmal, aber keine vollständige Erklärung der Ursachen für diese Differenz. Dieser Komplexität der Beziehungsgewalt müssen auch politische Debatten und daraus resultierenden Massnahmen gerecht werden. Zu beachten ist die Komplexität der Zusammenhänge von Geschlecht, Gewalt und weiteren Ungleichheitsstrukturen. In der Theorie muss also differenziert aufgezeigt werden, wo die Geschlechterkonstruktionen eine Rolle spielen und welche Auswirkungen sie konkret haben. Verhindern können wir Femizide und Feminizide nur, wenn wir die Strukturen, die darunter liegen, gezielt verändern. Um diese verändern zu können, müssen wir sie anerkennen und dafür müssen wir die Strukturen erfassen und benennen.


Fussnoten

1 Jamilia: Im Artikel der NZZ am Sonntag wird der Name «Aziza» verwendet. Da dieser Kommentar jedoch an frühere Stellungnahmen zum Mordfall anknüpft, bei denen jeweils der Name «Jamilia» verwendet wurde, wird «Jamilia» auch hier beibehalten.

2 TIN(F)A: Umfasst transgender und intergeschlechtliche Personen, Menschen mit nonbinärer oder ohne Geschlechtsidentität sowie cis Frauen. Je nach Satzkontext wird das «F» in Klammern gesetzt, wenn primär von Menschen die Rede ist, die nicht cisgender sind.

3 Femizid: Das Wort Femizid soll aufzeigen, dass in patriarchalen Verhältnissen Frauenmorde eine besondere Problematik darstellen, die tief verbunden sind mit gesellschaftlichen Werten. Die Bezeichnung eines Femizid soll die Geschichte auflösen, dass es bei Morden an Frauen bloss um individuelle Beziehungen geht (vgl. Gender Glossar). Frauen werden von Männern getötet, die das Gefühl haben, sie besitzen und über sie bestimmen zu können. (Es geht dabei nicht darum (allen) Männer die Schuld zu geben oder das männliche Geschlecht abzuwerten, sondern darum, Probleme anzusprechen, zu benennen und sie gemeinsam anzugehen – es geht darum, ein Muster aufzuzeigen.)

4 Feminizid: Morde und gewaltsame Tötungen auf Grund des gelesenen Geschlechts. Dazu zählen Morde von Lebenspartner*innen, aber auch Unbekannten. Die Unterscheidung der Worte Femizid und Feminizid bezieht sich einerseits auf geschlechtsspezifische Ursachen der Tötung und andererseits auf eine in der Tat deutlich werdende Systematik von Tötungen an Frauen, welche auch Komponenten staatlicher Verantwortung hervorhebt. Der Begriff Feminizid ist notwendig, weil er das Problem benennt und vergegenwärtigt: Gewalt gegen Frauen ist gesellschaftlich, weil sie abgewertet werden. Er betrachtet die Rolle staatlicher Institutionen und Akteur*innen in der Bekämpfung von Tötung an Frauen.

Quellen

  • Schweizer Radio und Fernsehen SRF. (2020, 05. Oktober). Christine Wanner, Häusliche Gewalt: Alle vier Wochen wird hierzulande eine Frau vom Partner getötet. Abgerufen von https://www.srf.ch/news/schweiz/haeusliche-gewalt-alle-vier-wochen-wird-hierzulande-eine-frau-vom-partner-getoetet
  • Brava, F!Z – Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, Schweizerische Flüchtlingshilfe, NGONG. (2021). Zur Situation gewaltbetroffener, geflüchteter Frauen in der Schweiz – Alternativer Vertiefungsbericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz. Abgerufen von https://www.brava.ngo/assets/dokumente/202107_IK_Vertiefungsbericht_gefluchtete-Frauen_d.pdf
  • Sánchez. (2010). Migrantin, betroffen von häuslicher Gewalt, wohnhaft in der Schweiz: über den Beitrag der sozialen Arbeit zum Opferschutz gewaltbetroffener Migrantinnen. Bachelorarbeit Zürcher Fachhochschule, ZHAW Soziale Arbeit, 2010.
  • Gaitanides, S. (2008). ‘Interkulturelle Öffnung der sozialen Dienste’ – Visionen und Stolpersteine, in: B. Rommelspacher & I. Kollak (Hrsg.), Interkulturelle Perspektiven für das Sozial- und Gesundheitswesen (S. 35-58). Frankfurt am Main: Mabuse.
  • Keller, Anne-Sophie. (2020, 20. November). Häusliche Gewalt: Warum misshandeln Männer Frauen? Abgerufen von https://www.migros.ch/de/Magazin/2020/femizide.html
  • Amnesty International, Queeramnesty. (2019). Praxisleitfaden für eine auf Integration und Gleichbehandlung ausgerichtete Aufnahme, Bern. Basierend auf: Asile LGBT. (2017). Réfugié.es LGBTI – lesbiennes, gays, bisexuel.les, transgenres et intersexes. Guide pratique pour un accueil inclusif et égalitaire, Genf. Abgerufen von https://queeramnesty.ch/wp-content/uploads/2019/11/Asyl-Broschure-Mobile.pdf