“Frontex und die italienischen Behörden haben die Menschen sterben lassen”

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Im NoFrontex-Abstimmungskampf hiess es oft, Frontex achte und schütze Menschenleben. Die Millionen-Beiträge der Schweiz seien daher gerechtfertigt. Nachdem am Sonntag ein Boot an den Felsen vor der süditalienischen Küste zerschellte und über 60 Personen starben, wird die Verantwortung von Frontex und den italienischen Behörden immer deutlicher. Das Sterben hätte auch diesmal verhindert werden können. Bewusst wurde jedoch davon abgesehen. Das zeigt Gianpiero Laurenzano in seiner Chronologie der Ereignisse.

Die Chronologie zeugt vom absoluten Desinteresse von Frontex und den italienischen Behörden Menschenleben zu schützen. Ihr Vorgehen ist geprägt von beschämendem Wegschauen, von der Vernachlässigung der Pflicht zur Rettung von Menschen in Not und von einer einseitigen Fixierung auf die Ächtung von sogenannten „Verbrechen“.

“Um 4.57 Uhr am Samstag 25. Februar empfängt die italienische Seenotleitstelle MRCC in Rom einen Notruf von einem Boot, das im Ionischen Meer in Seenot geraten ist. Die Koordinaten sind nicht angegeben. Alle Schiffe, die sich in diesem Gebiet aufhalten, werden aufgefordert Aufmerksamkeit zu sein und allfällige Hinweise zu melden.

Um 21.26 Uhr – 16 Stunden später – am Samstag 25. Februar entdeckt das Frontex-Flugzeug Eagle 1 das Boot und fotografiert es. Das Flugzeug patrouilliert im Rahmen der Operation Themis über dem Ionischen Meer. Der Bericht wird an die Frontex-Einsatzzentrale und an 26 weitere Adressen geschickt, darunter auch an das MRCC in Rom. Gemeldet wird ein Schiff in guter Seetüchtigkeit, das mit einer Geschwindigkeit von 6 Knoten fährt, mit einer Person an Deck, ohne sichtbare Rettungsweste und ohne Mensch im Wasser. Wärmebildsensoren stellten eine deutliche thermische Reaktion fest. Daraus lässt sich schliessen, dass sich viele Menschen unter Deck befinden. Der Frontex-Sprecher behauptet, dass Frontex den italienischen Behörden mitgeteilt habe, dass das Boot “stark überfüllt” sei.

Eagle 1 folgt dem Boot eine Weile, nimmt dann einen Telefonanruf vom Boot in die Türkei auf, und kehrt dann aber, nachdem der Treibstoff ausging, zum Flughafen Lamezia Terme zurück. Aus unerklärlicher Gründen wird keine weitere Überwachung der Situation eingeleitet. Ab diesem Zeitpunkt wird die grosse Verantwortung der italienischen Behörden deutlich.

Das MRCC wird erst sehr spät aktiv und beschliesst nicht die Patrouillenboote der 300er-Klasse der Küstenwache, die unsinkbar und selbstsicher sind und mit viel schlechteren Wetterbedingungen zurechtkommen, sondern zwei Schiffe der Guardia di Finanza für eine Operation zur Verbrechensbekämpfung auf das Meer zu schicken. Kurz nach Mitternacht läuft das Patrouillenboot V5006 aus dem Hafen von Crotone aus. Schon nach kurzer Zeit muss es zurückkehren, da es für Wellen der Stärke 4 ungeeignet ist. Von Tarent aus konnte auch das Hochseepatrouillenboot P.V. 6 Barbarisi, für Rettungseinsätze ebenfalls ungeeignet, das Boot nicht orten und beschloss umzukehren. Obwohl die Einheiten der Guardia di Finanza die schwierigen Seebedingungen nun kannten, aktivierten die Behörden die 300er Klasse nicht. Der Kahn wurde seinem Schicksal überlassen.

Gegen 4 Uhr am Sonntag entdeckten einige Fischer*innen den Kahn am Strand von Cutro einige hundert Meter vom Ufer entfernt und schlugen Alarm. Zur gleichen Zeit wurde auch vom Kahn aus der Notruf 112 abgesetzt. Es waren nur Schreie zu hören. Die Fischer berichten von zahlreichen Personen an Bord, die versuchten, mit den Lichtern ihrer Mobiltelefone um Hilfe zu rufen. Kurz danach wurden sie Zeug*innen des Schiffbruchs. Das von den Wellen weggeschwemmte Boot traf vermutlich auf eine Untiefe, kenterte und zerbrach an mehreren Stellen. Die beschriebene Szene ist erschütternd.

Um 4.30 Uhr morgens trafen die Carabinieri ein und versuchten, erste Hilfe zu leisten. Der Hafenmeiste behauptet hingegen, er habe erst um 4.47 Uhr Meldung erhalten. Das Patrouillenboot der Küstenwache sei deshalb erst um 5.35 Uhr vor Ort eingetroffen und meldete “unterkühlte Personen”, “vom Sog an Land gezogene Personen” und “einige Leichen”. Danach begannen die sogenannten Such- und Rettungsmassnahmen.”