Was geschieht in Kasachstan?

Eine (geflüchtete) Aktivistin berichtet über ihren Herkunftsstaat

Ich habe mehrere Nächte nicht geschlafen – das Internet und der Mobilfunk waren gesperrt. Man konnte sich nur auf den Nachrichtenseiten im benachbarten Kirgistan informieren, die selbst nur sehr spärliche Informationen erhielten und die nur schwer überprüft werden konnten. Einige Aktivist*innen schafften es trotzdem so Kontakt aufzunehmen, wofür sie zur kirgisischen Grenze gehen mussten, SIM-Karten von kirgisischen Mobilfunkanbieter*innen kaufen und aktivieren und mit Roaming in Kontakt treten mussten. Was klar ist: In Westkasachstan begann ein Aufstand der Bevölkerung mit einem Streik der Arbeiter*innen, die Forderungen nach einer Senkung des Gaspreises stellten.

Es ist anzumerken, dass Gas in Kasachstan produziert wird, zu seiner Verflüssigung nach Russland geschickt wird und das bereits deutlich Teurere erneut nach Kasachstan importiert wird. In Kasachstan gibt es drei Raffinerien, davon eine in Westkasachstan, eine im Zentrum der Republik und eine im Süden.
 Eine Anlage reicht oft nicht aus, um das nötige Öl und Gas zu verarbeiten. So ist es für den Hersteller in Atyrau im Westen des Landes teurer, Öl und Gas in den Süden oder ins Zentrum Pawlodar zu transportieren als es zur Verarbeitung nach Russland zu senden.

Auch sind die meisten Öl-/Gasförderunternehmen in Kasachstan teilweise oder vollständig im Besitz von ausländischem Kapital (aus verschiedenen Ländern der Welt). So rekrutieren diese Unternehmen auch ausländische Arbeitskräfte aus ihren jeweiligen Herkunftsländern. 

Trotz der Tatsache, dass kasachische Arbeitskräfte in ihrer Qualifikation nicht unterlegen sind und manchmal sogar die Qualifikationen ausländischer Arbeitskräfte übertreffen, sind die Löhne der Kasach*innen oft zehnmal niedriger als die Löhne ausländischer Arbeitskräfte. Ähnliches ist bei Unternehmen anderer Wirtschaftszweige und in anderen Regionen zu beobachten.



Die Schere zwischen der sozial benachteiligten kasachischen Bevölkerung und privilegierten selbsternannten „Elite“, die Clans (Väter, Töchter und Söhne, Enkel / Enkelinnen der ehemaligen Partei Nomenklatura, die sich Villen und andere Kapitalanlagen auch in der Schweiz kaufen können, wird dadurch immer grösser.

Der grösste Teil der kasachischen Gesellschaft kämpft, um zu überleben. Sie lebt von Brot und Wasser, manchmal reicht das Geld nicht einmal, um Brot zu kaufen. In Kasachstan besuchte ich Familien in Auls (Dörfer), die drei Tage lang denselben Tee aufbrühten und tranken. Der Tee war kein Tee mehr, sondern ein wenig trübes Wasser. Aber die Familien sprechen nicht über ihre Lage, weil sie nicht die Möglichkeit haben, jemanden von ihren Problemen zu erzählen. Auch ist die ständige Propaganda von allen Seiten (bezahlten Medien, Blogger*innen und Fernseh- und Radiosendungen) sehr stark und vermittelt das Bild von einem schönen und im Wohlstand lebenden Kasachstand, sowohl gegenüber der Welt wie auch in Kasachstan unter der Bevölkerung.

Die Propaganda vermittelt den Menschen in Kasachstan in neoliberaler Weise, dass wenn sie keine Arbeit haben, nichts zu essen, kein Geld für die Miete und für Medikamente, dass sie dann Verlierer und selber an ihrem Zustand Schuld seien. Und dass sie nicht versuchen sollen, aus der Armut herauszukommen, da ihr Leben eh nichts wert sei. Diese Hoffnungslosigkeit hat die am stärksten benachteiligten Schichten der Gesellschaft durchdrungen.



Die Erhöhung der Gaspreise führte jedoch nun zu Protesten aus der Bevölkerung. Federführend bei den Demonstrationen sind vor allem junge Menschen, Binnenmigrant*innen, die aus allen Regionen Kasachstans auf der Suche nach Arbeit in die Metropole Almaty kamen, oder junge Personen, die die Universität abgeschlossen haben und nach ihrem Abschluss keine Arbeit fanden.



Ich habe Videos gesehen, in denen die Demonstrant*innen über die Motive sprachen, die sie dazu veranlassten, auf den Platz zu gehen. Zum Beispiel stellte sich ein 37jähriger Mann vor und sagte offen, dass er, als Kasachstan 1991 die Unabhängigkeit erlangte, 7 Jahre alt war. Jetzt ist er Familienvater und er wisse nicht, wie er seine Kinder ernähren solle.



Ein weiterer Mann, 20 Jahre alt, stellte sich vor und sagte, er sei hier bereits versklavt geboren worden in diesem Land und er wolle nicht länger von den Eliten unterdrückt bleiben. Auch wenn die Behörden ihn bei der Teilnahme bei den Demonstrationen als Terroristen einstufen und erschiessen, sei dies besser als bisher. Er würde lieber tot und frei sein als wie bisher weiterzuleben.

Die junge Frau, die Angst hatte ihren Namen zu nennen und ihr Gesicht zu zeigen, sagte, dass sie gegen Tyrannei und Ungerechtigkeit demonstriere.

 Almaty ist die am Stärksten politisierte Stadt Kasachstans. An dem Protest nahmen sowohl benachteiligte Bürger*innen (die überwältigende Mehrheit) als auch verschiedene Oppositionskräfte teil. Es sind oft nicht registrierte Parteien. Es werden soziale und politische Forderungen gestellt, von der Senkung der Lebensmittelpreise bis hin zur Änderung des politischen Systems. In anderen Städten wurden ähnliche Forderungen gestellt und Denkmäler des ersten Präsidenten abgerissen.

 Die Demonstrationen wurden gewaltsam niedergeschlagen. Augenzeugen berichten, dass das Feuer von Sicherheitskräften eröffnet wurde. Dann tauchten Bewaffnete auf, über deren Herkunft die offiziellen Behörden Kasachstans nach wie vor spekulieren. 

In den Medien und von den Behörden wurde ein Narrativ verbreitet, dass sie Terrorist*innen mit einer radikal-islamischen Überzeugung seien und aus anderen zentralasiatischen Ländern, Afghanistan und dem Nahen Osten nach Kasachstan gekommen seien.
 Dafür gibt es jedoch keine Beweise. Szenen von ausgebrannten Autos, Gebäuden, durchwühlten Geschäften wurden und werden gezeigt, um dieses Narrativ zu stützen. 



Unter dem Vorwand gegen Terrorismus vorgehen zu müssen, wurden die OVKS-Truppen eingesetzt. Das sind Truppen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Mitglieder dieses Militärbündnisses, das vor allem von Russland dominiert wird, sind Armenien, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan. Der Einsatz wurde jedoch als Verrat an den nationalen Interessen des Landes empfunden. Bei dem Einsatz kam es auch zu Toten unter der Zivilbevölkerung. Der Präsident Tokajew schweigt jedoch über die Zahl.

Gerade wurde jedoch eine Familie (Mutter, Vater, Tochter) begraben, die durch das Militär starb. Im Land werden Aktivist*innen, Demontrant*innen, Journalist*innen festgenommen. Es wird berichtet, dass sie entweder tot oder gefoltert zurückkommen würden. Von einer strukturellen Veränderung kann jedoch keine Rede sein. Alles wird auf ein Wort reduziert: Stabilität. Das Leben der getöteten Demonstrant*innen, der ehemaligen, gegenwärtigen und zukünftigen Opfer des Regimes werden für die so genannte Stabilität und damit der Aufrechterhaltung der “Eliten” geopfert.