Stimmen nach der Demo gegen Isolation

“Wir müssen gesehen und gehört werden. Deshalb haben wir protestiert. Die Schweiz soll wissen wie es uns geht. Sie soll sich mit Menschlichkeit auseinandersetzen. Die Demo war gut. Doch die Medien haben schlecht berichtet. Es war nur wichtig was die Polizei macht. Warum schreiben die Medien nicht mehr über unsere Anliegen, Probleme und Vorschläge. Ich habe schon viele Interviews gegeben, doch veröffentlicht wurden sie nie. 

Es war ein Fehler nicht auf dem Bundesplatz zu bleiben, um diesen zu besetzen. Heute hört und sieht uns wieder niemand mehr. In Afghanistan war es auch so. Es gab Krieg. Weltweit haben alle darüber gesprochen. Dann sagten sie der Krieg sei fertig. Doch er hat wieder angefangen. Dann hat in der weltweiten Öffentlichkeit aber niemand mehr darüber gesprochen. Unsere Präsidenten schicken uns in den Krieg. Hier in der Schweiz müssen Migrant*innen Haareschneiden, auf Baustellen arbeiten, Putzen, das sind unsere Jobs. Schweizer*innen arbeiten in anderen Bereichen. Wir wollen arbeiten auch wenn es diese Jobs sein müssen, denn wir wollen nicht von acht Franken pro Tag leben müssen.”

“Ein Mensch ist ein Mensch. Die Schweiz ist ein sicheres Land. Viele glauben an solche Sätze, doch für uns haben sie keine Bedeutung. Hier sind wir nicht wie andere Menschen. Hier gibt es keine Sicherheit für uns.”

22.01.20 Foto: © Ursula Markus u.markus@bluewin.ch 078 709 86 30 *** Local Caption *** info@migrant-solidarity-network.ch

“Das war meine erste Demonstration in der Schweiz. Die Demo war gut, doch die Polizei war schlecht. Ich lebe schon seit fünf Jahren in Urdorf in einem Bunker. Wenn ich die Polizei sehe, macht mir das immer grosse Angst. 
Gestern war ich mit meinem sieben-jährigen Sohn an der Demo. Er wurde von Pfefferspray geätzt und vom Gummischrot getroffen. Drei Stunden schmerzten auch meine Augen wegen dem Pfefferspray. Neben mir stand auch eine Frau die am Bauch getroffen und verletzt wurde. Jetzt müssen wir leider alle wieder nach Aarwangen in das Rückkehrcamp zurück. “

22.01.20 Foto: © Ursula Markus u.markus@bluewin.ch 078 709 86 30 *** Local Caption *** info@migrant-solidarity-network.ch

“Wir haben für unsere Rechte gekämpft. Aber die Polizei war total gegen uns. Das hängt wohl damit zusammen, dass wir geflüchtete Menschen sind. Das wirkt auf mich wie Rassismus. In einem Land, wo viel von Freiheit und Menschenrechten die Rede ist, sollte es nicht dazu kommen, dass Menschen, die ihre Meinung sagen wollen so behandelt werden wie wir gestern. Darin sehe ich eine Begrenzung der Freiheit gewisser Menschen. Wir wollen gar nicht viel ausser ein Leben und gleiche Rechte wie die anderen. Arbeiten dürfen, leben dürfen. Ich bin solidarisch mit der Klimabewegung und gleichwohl sehe ich, dass die Klimabewegung – als eine Bewegung von mehrheitlich Europäer*innen – anders als unsere behandelt wird.” 

22.01.20 Foto: © Ursula Markus u.markus@bluewin.ch 078 709 86 30 *** Local Caption *** info@migrant-solidarity-network.ch

“Es gibt Menschen unter uns, die leben bereits über 15 Jahre in der Schweiz und können nichts tun. Sie können nicht arbeiten gehen, sie müssen jeden Tag im Asylcamp eine Unterschrift abgeben, auch am Wochenende. Sie können nicht studieren gehen, weil ihnen der Ausweis fehlt. Sie können keine Lehre finden. Sie können nicht raus gehen, denn sie können ausserhalb des Camps jederzeit von der Polizei eine Busse wegen «illegalem Aufenthalt» erhalten. Wegen dieser Situation haben viele Suizidgedanken. Das Ziel unseres Protests ist es, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, um ein ganz normales Leben wie andere führen zu dürfen. Wir haben diese Demo gemacht, um unsere Sitaution zu verbessern. Um keine Angst mehr haben zu müssen, wenn wir das Asylcamp verlassen. Denn wir können von der Polizei jederzeit verhaftet oder gebüsst werden. Wenn wir im Asylcamp bleiben, haben wir Stress mit der ORS. Sie sind streng, sehr streng. Sie benutzen uns, denn wer nicht für sie arbeitet, kann für 30 Tage aus dem Camp geworfen werden. Auch wer nicht jeden Tag im Camp anwesend ist um zu unterschreiben, kann aus dem Camp geworfen werden. Im Camp bleiben ist auch schwierig. Viel zu viele Menschen müssen zusammen Schlafsääle, Duschen, Toiletten und die Küche nutzen. Auch das ist nur Stress. Am Morgen, wenn die Kinder zu Schule müssen, müssen sie die Toiletten und Duschen zusammen mit 18 anderen nutzen.”

Von der Polizei weggesprüht! Bericht:
Gestern Nachmittag versammelten sich einmal mehr Menschen aus Asylcamps aus verschiedenen Kantonen, um Lösungen für ihre akuten Probleme zu fordern. Auf dem Kornhausplatz trafen die Demonstrant*innen auf eine Strassensperre der Polizei. Nachdem einige Menschen den Demozug fortsetzen wollten, wurde ein Mann (39) in der dritten Reihe von der Polizei angegriffen und es wurde ihm aus nächster Nähe Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Der Mann schaute kurz zuvor zurück zum restlichen Demozug, als er sich wieder nach vorne drehte, stand der Polizist mit dem Spray vor ihm und drückte ab. Dies löste bei ihm einen starken Husten aus. Er konnte noch einige Schritte zurück und fiel zu Boden. Leute kamen schnell mit Wasser zu Hilfe. Wer ihm zu Hilfe kam, konnte er nicht erkennen. Durch seine Atemlosigkeit hatte er keine Möglichkeit zu sprechen. Die Anweisungen der Polizei (die erst nach mehreren Minuten hinzukam) und der Rettungssanität konnte er in diesem Zustand nicht verstehen. Durch die Hilfe eines Mannes mit derselben Sprache verstand er dann die Anweisungen der Rettungssanität. Der Mann hatte bereits in den letzten 8 Jahren immer wieder Atemprobleme, was er an diesem Tag erlebte war ein vielfaches davon. In der Ambulanz konnte er nach wie vor nichts sehen. Auf der Fahrt wurde er mehrmals mit  Augenberuhigungsspray behandelt. Im Spital wurde er in ärztlicher Behandlung an ein Atemgerät angeschlossen. Bis zum Spital konnte er die Augen nicht öffnen, die Zeitspanne war mehr als eine Stunde. Seine Gedanken bei diesem Schockerlebnis waren bei seinem Kind, welches er bis zum heutigen Tag noch nie gesehen hat. Denn er lebt seit 5 Jahren im schweizer Asyllagersystem und hat keine Möglichkeit in seine Heimat zurückzukehren. Sein Wunsch an der Demo war mindestens das Recht zu erhalten, sein Kind wieder zu sehen. Dass die Polizei so hart auf ein menschliches Anliegen reagiert, ist für ihn nicht nachvollziehbar. Die Schmerzen dauern an und auch am Tag danach lebt er mit starken Schmerzen im Hals und in der Lunge. Sein Anliegen blieb einmal mehr unangehört.

Reflexion nach der Demo gegen Isolation – Annika Becker*
“Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich meine Gedanken nach der Demonstration von abgewiesenen Asylsuchenden am 22. September aufschreiben soll. Wie andere Teilnehmerinnen dieser friedlichen Demonstration erlebte ich physische Angriffe und die unverhältnismässige Wut der Berner Polizei und die anschliessende Deprimierung. Der Staat hat erneut gezeigt, dass die Geflüchtete – nichtweisse Menschen aus Drittländern, quasi Menschen der dritten Klasse sind. In diesem Fall spielte es keine Rolle, ob es sich bei den Demonstranten um Kinder, schwangere Frauen oder Behinderte handelte. Sowohl Kinder als auch behinderte Menschen litten unter dem Tränengas, und auch schwangere Frauen wurden durch Gummischrot verletzt.
Wenn man mit dem System nicht einverstanden ist, hat man die Idee, dass man ihre Meinung in Mitteleuropa friedlich äussern könnte – lässt man sich enttäuschen. Die grösste Diskrepanz besteht darin, dass die Polizei den Anweisungen von oben folgt. Die Nothilfe, die 2009 eingeführt wurde, die die Isolation von Einzelpersonen und Familien in kollektiven Zentren unter der wachsamen Kontrolle der Privatfirma ORS impliziert, ist repressiv und richtet sich an Menschen, die die Schweiz verzweifelt verlassen müssen.
Geflüchtete Aktivisten, die versuchen, für ihre Rechte zu demonstrieren, könnten sich einer ganzen Reihe von Verfolgungen durch die Behörden “erfreuen”. Geflüchtete Protestierende von der Demonstration können nicht einmal eine Beschwerde gegen Polizeigewalt einreichen, ohne keine Repressalien zu erhalten. Aktivität und Uneinigkeit mit der vorherrschenden Meinung der rechten Parteien werden bestraft und werden in der Tat zu einem Privileg.
Ich hätte mir gewünscht, dem weinenden wegen des Tränengas Jungen zu versichern, dass der Kampf seiner schwangeren schwarzen Mutter um ihre Rechte nicht vergessen wird. Ich würde ihm sagen, dass er, wann er gross wird, diese Demonstration wie einen bösen Traum vergessen wird, und dass es keine Diskriminierung geben wird. Ich wollte sagen – morgen wird alles gut. Das kann ich aber nicht. Ich kann sogar diesen Text nicht selbst unter meinem eigenen Namen schreiben. Weil Aktivismus strafbar seien könnte, weil es Konsequenzen geben könnte.
Und ich frage mich immer wieder, warum alles so passiert – warum muss ich im 21. Jahrhundert in einem Staat, der stolz auf seine humanitären Traditionen ist, meinen Namen verstecken, wenn ich diese Zeilen schreibe? Warum haben Geflüchtete Personen kein Recht, gegen die Isolation zu protestieren und bessere Bedingungen zu fordern? Und wenn sie protestieren, müssen sie mit Gummischrot, Wasser aus einem Wasserwerfer oder Tränengas und Pfefferspray erschossen werden? Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!
Die Gewalt der Polizei bei der Demonstration am 22.September hat Konsequenzen. Wenn wir schweigen, Medien schweigen, stimmen wir Alle der stillschweigend zu, und unsere stillschweigende Zustimmung unterstützt und gibt den Machthabern Nahrung und Hoffnung, mit denen solche Aktionen der Polizei in Zukunft auch weitergemacht werden können.
Ist das die Zukunft, die wir wollen? Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der diese Kinder von der Demonstration offen über Probleme oder Proteste diskutieren können. In dem meine Schwestern und Brüder, die jetzt in den Asylcamps leben, unter uns leben und arbeiten würden. Damit wir nie wieder über staatliche Repressionen und die Racial Profiling der Polizei schreiben müssen. Damit ich mich nicht mehr unter einem Pseudonym verstecken muss …”
*Name geändert

 

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