„Keiner sieht mich. Keiner hört mich. Hier bin ich ein Nichts“ – Angehörige und Freund*innen erzählen Massouds Geschichte

(English below) Massoud ist am 22. August 2020 aus dem Leben gegangen. Es ist von einem Suizid auszugehen. Angehörige und nächste Freund*innen von Massoud haben dem Migrant Solidarity Network seine Geschichte erzählt. Nichts soll vergessen gehen, wenn Menschen wegen des Asylsystems sterben:

„Massoud war ein ehrlicher Mann. Als Kurde musste er aus dem Iran in die Schweiz flüchten. Im Mai dieses Jahres haben die Behörden des SEM jedoch entschieden, ihm nicht zu glauben und sein Asylgesuch abzulehnen. Am 22. August 2020 ist er aus dem Leben gegangen. Wir, seine Familie und seine Freund*innen, liebten ihn und wollen, dass die Wahrheit über seine Geschichte bekannt wird.

Am 6. Dezember 1989 ist Massoud im Iran geboren. Wir Kurd*innen sind im Iran keine gleichberechtigten Bürger*innen. Für das Regime sind wir Menschen 3. Klasse. Kurdische Schulen sind verboten. In der Schule lernen wir Farsi statt unsere Muttersprache. Wir haben kaum Zugang zu staatlichen Stellen. Wir sind im Iran machtlos. Am extremsten zeigt sich die Unterdrückung der Kurd*innen an den vielen Hinrichtungen. Gestern wurden vier Kurd*innen hingerichtet. Das sind die Gründe, warum viele Kurd*innen wie Massoud den Iran verlassen.

Massoud war ein ehrlicher Mensch. Alle, die ihn kennen, können dies bezeugen. Doch mit seiner Ehrlichkeit konnte er im Iran nur verlieren. Er kritisierte das Regime und benannte die Diskriminierung und Unterdrückung der Kurd*innen im Iran. Massoud war nicht direkt politisch organisiert, doch als klartextsprechender Kurde stand er ständig unter Druck. Unter diesem Druck litt er sehr.

Auf Massouds Ehrlichkeit reagierte das Regime mit einem total verhältnislosen Haftbefehl. Die Behörden warfen ihm Verleumdung, Beleidigung und die Verbreitung von Lügen über die iranische Regierung und die schiitische Religion vor. Den Haftbefehl hat er dem SEM als Beweisstück abgegeben, dennoch glauben sie ihm nicht. Andere Kurd*innen mit demselben Haftbefehl verschwanden spurlos oder wurden hingerichtet. Viele wurden vorher gefoltert und zu Falschaussagen gegen andere oder über das kurdische Volk gezwungen. Weitere wurden vergewaltigt oder zum Selbstmord gebracht.

Die Angst vor der Verhaftung hat Massoud dazu gezwungen, das Land zu verlassen. Er hat sein Land geliebt, doch trotzdem musste er gehen. Massooud hatte eine eigene Wohnung, war Geschäftsführer eines Haushaltsgeräteladens. Er mochte das Essen, das Wetter, die Menschen. Er mochte den Sport. Sein Traum war es, als Ringer an den Weltmeisterschaften teilzunehmen.

Wer geht schon freiwillig weg? Massoud musste weg. In den letzten zwei Monaten im Iran hat er in seinem Auto gelebt. Die Behörden suchten ihn überall, bei seinen Eltern, seinen Geschwistern, überall. Sie hatten sein Nummernschild ausfindig gemacht. Mehrmals hatten sie ihn fast erwischt, doch wie durch ein Wunder entkam er.

Massoud war ein starker Mann. Erst in der Schweiz haben sie ihn in die Knie gezwungen. Am 17. September 2018, vor fast zwei Jahren, hat er Asyl beantragt. Kurz nach seiner Ankunft in der Schweiz sagte er uns: „Als ich an der Grenze die Schweizer Flagge sah, habe ich tief eingeatmet: Ich fühle mich hier lebendig und als Mensch zugehörig, obwohl ich gar nicht hier geboren bin. Ich will mein Leben hier neu aufbauen“. Das war ehrlich gemeint. Massoud hat die Sprache rasch gelernt und hat neue Freund*innen gefunden. Das haben wir an seiner Beerdigung gesehen. Er wollte unbedingt mit seiner Ringerkarriere durchstarten. Sonst wollte er ein ganz normales ruhiges Leben ohne Lügen. Und er wollte unbedingt als Fahrer von Reisebussen arbeiten.

Das Warten auf die erste Asylanhörung setzte ihm zu. Es war eine zermürbende Erfahrung für ihn. Er sagte, sein Leben sei wie auf Eis gelegt. In Glarus durfte er nicht einmal arbeiten. Er hatte das Gefühl nicht gesehen, gehört zu werden. Ein Nichts zu sein. Erst am 4. März 2020 wurde er zu einem Interview vorgeladen. Er hatte sich keinen Anwalt oder keine Anwältin genommen. Er sagte immer, er wolle nur ehrlich sein und seine Geschichte erzählen, dafür brauche er keine Unterstützung.

Am 28. Mai kam dann die Antwort des SEM. Die Behörden wollten ihm nicht glauben. Sie behaupteten, Massoud sei nicht glaubwürdig und lehnten sein Gesuch ab. Diese Entscheidung traf eine Person vom Homeoffice aus. Es war nicht die Person, die ihn interviewt hatte. Es war ein Mensch, den Massoud noch nie gesehen hatte. Das hat ihn fertig gemacht. Er war sehr empört und meinte: „Wenn ich hätte Lügen wollen, dann hätte ich mir eine bessere Geschichte als meine ausgedacht. Leider habe ich nur die Wahrheit gesagt“.

In der Nacht nach dem negativen Entscheid versuchte sich Massoud ein erstes Mal das Leben zu nehmen. Am 29. Mai hielt eine Ärztin im Spital Glarus fest: „Herr Quadiri hat heute einen negativen Asylentscheid erhalten und ist akut suizidal. (…) Seit einem Jahr haben die Suizidgedanken zugenommen und er habe schon über verschiedene konkrete Methoden nachgedacht. Er habe sich jedoch nie dazu entschieden, weil er etwas Hoffnung gehabt habe. Nun habe er keine Hoffnung mehr und könne nicht garantieren, dass er sich nicht wirklich das Leben nehme.“ Nach diesem Befund brachte man ihn ins Kantonsspital Graubünden in Chur. Doch bereits am nächsten Tag wurde er dort wieder entlassen. Eine weiterführende Behandlung war nicht vorgesehen. Wir mussten zuerst Druck machen, bis er einen Therapieplatz erhalten konnte. Erst am 29. Juni wurde er von einem Psychiater abgeklärt. Dieser wollte ihm Medikamente anbieten, doch Massoud wollte keine Medikamente. Er wollte eine Zukunft und brauchte eine Therapie. Die erste Therapiesitzung fand erst am 7. August statt. Ist es normal, eine suizidale Person solange auf Hilfe warten zu lassen? Massoud hatte darauf eine klare Antwort „Ich bin für sie nichts wert“.

Nach dem Negativentscheid verschlossen sich die wenigen offenen Türen in seinem Leben. Er hatte panische Angst vor einer Ausschaffung in den Iran. Nur noch Freiwilligenarbeit war erlaubt. „Ich habe bereits zehntausende Franken ehrenamtliche Arbeit geleistet“ berichtete er uns. Und der Sport blieb ein Rettungsring. Er trainierte hart für die lokalen Meisterschaften, doch diese wurden wegen Corona abgesagt. Ein weiterer Schlag für seine stark angeschlagene Psyche.

Dann, zwei Wochen vor seinem Tod, erzählte uns Massoud, dass er annehme, dass das SEM seine Dokumente einem iranischen Anwalt in Genf geschickt habe. Dieser solle dem SEM eine Einschätzung zu seinen Dokumenten abgeben. Massoud hatte erfahren, dass Hinweise bestünden, dass dieser Anwalt nicht nur für das SEM sondern auch für das Iranische Regime arbeite. Das hat Massoud die letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit genommen. An einen positiven Bescheid des Bundesverwaltungsgerichts auf seine noch offene Beschwerde glaubte er fortan nicht mehr. Am 21. August sagte er die dritte Therapiesitzung seit seinem ersten Suizidversuch ab. Niemand hat es für nötig gehalten, uns Angehörige darüber zu informieren. Dabei hatten wir dies explizit gewünscht, weil wir Angst hatten vor dem, was am nächsten Tag geschehen würde.

Am 22. August ist Massoud aus dem Leben gegangen. Es war sein letzter Hilfeschrei. Wir Angehörigen und nächsten Freund*innen wurden erst am 24. August am Nachmittag informiert.

Massoud wollte Ruhe und ein normales Leben, doch fand hier keine Gerechtigkeit. Er brauchte Hilfe, doch diese wurde ihm verweigert. Er war ehrlich, doch ihm wurde nicht geglaubt. „Keiner sieht mich. Keiner hört mich. Hier bin ich ein Nichts“, das waren Massouds Worte. Massoud, dein Lebenslicht hätte noch länger brennen können.“


“No one sees me. No one hears me. Here I am nothing” –

Relatives and closest friends of Massoud Quadiri told the Migrant Solidarity Network his story. Nothing should be forgotten when people die because of the asylum system:

“Massoud was an honest man. As a Kurd, he had to flee from Iran to Switzerland. However, in May of this year the authorities of the SEM decided not to believe him and rejected his asylum application. On August 22, 2020 he took his own life. We, his family and his friends loved him and want the truth about his story to be known.

Massoud was born in Iran on December 6, 1989. We Kurds are not equal citizens in Iran. For the regime we are 3rd class people. Kurdish schools are forbidden. At school we learn Farsi instead of our mother tongue. We have hardly any access to state authorities. We are powerless in Iran. The most extreme evidence of the oppression of the Kurdish people is the high number of executions. Yesterday four Kurds were executed. These are the reasons why many Kurds like Massoud leave Iran.

Massoud was an honest man. All who know him can testify this. But with his honesty he could only lose in Iran. He criticized the regime and named the discrimination and oppression of Kurdish people in Iran. Massoud was not directly politically organized, but as a plain speaking Kurd he was under constant pressure. He suffered greatly under this pressure.

The regime responded to Massoud’s honesty with a totally disproportionate arrest warrant. The authorities accused him of slander, insulting and spreading lies about the Iranian government and Shiite religion. He gave the arrest warrant to the SEM as evidence, yet they do not believe him. Other Kurds with the same warrant disappeared without a trace or were executed. Many were tortured and forced to give false testimony against others or the Kurdish people. Others were raped or made to commit suicide.

The fear of arrest has forced Massoud to leave the country. He loved his country, but still he had to leave. Massoud had his own apartment, was the manager of a household appliance store. He liked the food, the weather, the people. He liked sports. His dream was to participate in the world championships as a wrestler.

Who would voluntarily leave? Massoud had to leave. For the last two months in Iran he lived in his car. The authorities looked for him everywhere, at his parents, his siblings, everywhere. They had traced his license plate. Several times they had almost caught him, but miraculously he managed to escape.

Massoud was a tough man. Only in Switzerland did they bring him to his knees. On September 17, 2018, almost two years ago, he applied for asylum. Shortly after his arrival in Switzerland, he told us: “When I saw the Swiss flag at the border, I took a deep breath: I feel alive and as a human being I belong here, even though I was not born here. I want to rebuild my life here”. That was sincerely meant. Massoud learned the language quickly and found new friends. We saw that at his funeral. He was eager to start his wrestling career. Otherwise he wanted a normal quiet life without lies. And he absolutely wanted to work as a coach driver.

The waiting for the first asylum hearing was very hard for him. It was a grueling experience for him. He said his life was like being on hold. He was not even allowed to work in Glarus. He had the feeling of not being seen, not being heard. To be nothing. Only on 4 March 2020 was he summoned for an interview. He had not taken a lawyer. He always said he just wanted to be honest and tell his story, he didn’t need any support for that.

On May 28, the SEM finally responded. The authorities did not want to believe him. They claimed that Massoud was not credible and rejected his request. This decision was made by a person sitting in the home office. It was not the person who had interviewed him. It was a person whom Massoud had never seen before. That was what got him down. He was very upset and said: “If I wanted lies, I would have made up a better story than mine. Unfortunately I only told the truth”.

The night after the negative decision, Massoud tried to take his own life for the first time. On May 29th, a doctor at the Glarus hospital stated: “Mr. Quadiri has received a negative asylum decision today and is acutely suicidal. (…) For a year now, thoughts of suicide have increased and he has already started to think about various concrete methods. However, he had never decided to do so because he had had some hope. Now he had no more hope and could not guarantee that he would not really take his own life. After this finding, he was taken to the Graubünden Cantonal Hospital in Chur. But he was discharged the very next day. No further treatment was planned. We first had to put pressure on them until he could get a therapy place. Only on June 29th he was examined by a psychiatrist. The psychiatrist wanted to offer him medication, but Massoud did not want any medication. He wanted a future and needed therapy. The first therapy session did not take place until August 7. Is it normal to make a suicidal person wait this long for help? Massoud had a clear answer to this question: “I am of no value to them”.

After the negative decision, the few open doors in his life closed. Only volunteer work was allowed. “I have already volunteered tens of thousands of francs” he told us. And sport remained a lifeline. He trained hard for the local championships, but these were cancelled because of Corona. Another blow to his severely battered psyche.

Then, two weeks before his death, Massoud told us that he assumed that the SEM had sent his documents to Ashiri, an Iranian lawyer in Geneva. He was to give the SEM an assessment of Massoud’s documents. Massoud had learned that there were indications that this lawyer was working for the Iranian regime. This took away Massoud’s last hope of justice. From then on, he no longer believed in a positive decision by the Federal Administrative Court on his still pending appeal. On August 21, he cancelled the third therapy session since the suicide attempt. No one thought it necessary to inform us relatives about it. We had explicitly requested this because we were afraid of what would happen the next day. On August 22, Massoud passed away. We relatives and closest friends were not informed until the afternoon of August 24.

Massoud wanted peace and a normal life, but found no justice here. He needed help, but it was refused him. He was honest, but he was not believed. “No one sees me. No one hears me. Here I am nothing”, those were Massoud’s words. Massoud, your life light could have burned much longer.

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