1-4 Suizidversuche pro Woche pro BAZ: Spielt das SEM mit seiner Fürsorge- und Schutzpflicht für das Recht auf Leben?

Quelle: Solinetz Luzern

Es sind alarmierende und skandalöse Zahlen. Allein im Bundesasylzentrum (BAZ) in Boudry haben sich mindestens zwei Personen das Leben genommen. Laut einer vom Staatssekretariat für Migration (SEM) in Auftrag gegebenen Studie von UNISANTÉ/CHUV kommt es in den BAZ Boudry, Vallorbe und Giffers jede Woche zu 1-4 Suizidversuchen/Selbstschädigungen. „Offensichtlich unternimmt das SEM zu wenig, um das Recht auf Leben in diesen BAZ genügend zu schützen“, kritisiert das Migrant Solidarity Network und fordert vom SEM Zahlen und Erklärungen zur Lage in den anderen Asylregionen der Schweiz.

Es muss davon ausgegangen werden, dass die vom SEM organisierte freiheitsbeschränkende Isolation und Disziplinierung in den BAZ, die Arbeit und Gewalt der Firmen, die mit „Betreuung“ und „Sicherheit“ Profite machen, sowie die harte Asylgesetzgebung mitschuldig sind.

Migrant Solidarity Network

Das Recht auf Leben von geflüchteten asylsuchenden Personen ist in den BAZ gefährdet

In den BAZ schränkt der Staat die Freiheiten von geflüchteten Personen stark ein. Betroffen sind z.B. das Recht auf Bewegungsfreiheit, Privatleben, soziale Kontakte und Familienleben. Auch ist der Zugang zur korrekten Gesundheitsversorgung erschwert und teilweise nicht möglich. Diese Einschränkungen haben negative Folgen auf das Recht auf Leben für die betroffenen Asylsuchenden.

Das Recht auf Leben, welches auch die körperliche und geistige Unversehrtheit umfasst, ist in Artikel 10 der Bundesverfassung, Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 6 des UNO Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) verankert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat den Anwendungsbereich auch auf Fälle ausgedehnt, in denen eine Person lebensbedrohliche Verletzungen erleidet (vgl. Urteil Lopes de Sousa Fernandes gegen Portugal).

Fürsorge- und Schutzpflicht: Je mehr der Staat in den BAZ die Freiheiten beschränkt, desto mehr ist er für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der BAZ-Bewohnenden verantwortlich.

Die Fürsorge- und Schutzpflicht für das Recht auf Leben umfasst erstens, dass präventiv eine optimale medizinische Behandlung gewährleistet ist. Die gesundheitliche Versorgung muss angesichts der Freiheitsbeschränkungen u.U. sogar besser sein als jene, die der freieren Bevölkerung ausserhalb der BAZ zusteht. Zweitens müssen Probleme richtig analysiert, bekämpft und behoben werden. Todesfälle wegen Suizid, aber auch Suizidversuche/Selbstschädigungen, müssen von einer unabhängigen externen Stelle sorgfältig und umfassend untersucht werden. Verhältnisse müssen verändert werden, um ähnliche Todesfälle oder Suizidversuche/Selbstschädigungen zu verhindern. Das Minnesota-Protokoll zeigt, was so eine Untersuchung beinhaltet. Je nach Ergebnissen sind auch Strafprozesse gegen die Verantwortlichen angezeigt.

Folgende Fragen hat das Migrant Solidarity Network an das Staatssekretariat für Migration (SEM) gerichtet.

  • Wie viele Suizide gab es schweizweit und pro BAZ seit deren in Betriebnahme?
  • Die erwähnte Studie untersuchte Suizidversuche/Selbstschädigungen in den BAZ Boudry, Vallorbe und Giffers, die sich von 1.1.21-30.9.21 zugetragen haben. Wie viele Suizidversuche/Selbstschädigungen gab es im selben Zeitraum insgesamt pro BAZ in den anderen Asylregionen?
  • In wie vielen Fällen wurden Suizide und Suizidversuche/Selbstschädigungen strafrechtlich-polizeilich untersucht?
  • In wie vielen Fällen wurden Suizide und Suizidversuche/Selbstschädigungen von einer externen unabhängigen Stelle (beispielsweise anhand des Minnesota-Protokoll) untersucht?
  • Was waren die Ergebnisse allfälliger Untersuchungen betreffend Ursachen?
  • Welche Massnahmen wurden bisher ergriffen, um die Ursachen für Suizide und Suizidversuche/Selbstschädigungen in den BAZ zu beheben, um neue Fälle zu verhindern?
  • Wie steht das SEM mit Angehörigen der betroffenen Personen in Kontakt?
  • Wie geht das SEM bei Todesfällen vor, sowohl in Bezug auf rechtliche Belange wie auch in Bezug auf die Körper der Personen?